Nicht allein

Veröffentlicht am 23. März 2025 um 11:00

Marie ist sich sicher. Dr. Hartman will sie nur manipulieren. Die ganze Welt scheint gegen sie. Oder ist es sie selbst, die gegen sich arbeitet?

„Marie.“ Dr. Hartman schnippte zweimal mit seinen Fingern vor ihrem Gesicht.

Sie zuckte zusammen. „Entschuldigen sie. Was haben sie gesagt?“

„Ich habe sie gefragt, wie sie glauben, dass es weiter gehen soll?“

Marie schüttelte energisch den Kopf. „Wieso? Was weiter gehen? Es ist doch alles gut. Ich habe mein Leben im Griff. Die Wohnung, meine Katze, ...“ Dr. Hartman hob seine rechte Hand.

„Hören sie damit auf. Das geht so nicht weiter. Sie müssen endlich aufwachen.“, seufzte er. Er lehnte sich in seinem Stuhl nach vorne und sah ihr tief in die Augen. „Aufwachen!“, sagte er mit einer energischen Stimme und schnippte wieder zweimal mit seinen Fingern vor ihrem Gesicht.

„Hören sie damit auf!“, schrie Marie ihn an. „Es reicht jetzt. Sie alle manipulieren mich nur.“

Marie sprang auf, packte ihre Sachen und verließ fluchtartig die Praxis.

Dr. Hartman ging zu seinem Schreibtisch und nahm sein Telefon in die Hand.

„Ja?“, antwortete eine Stimme.

„Wir müssen sie heute rausholen. So geht das nicht mehr weiter. Sie ist eine Gefahr für sie. Warten sie auf meinen Anruf.“

Dann legte er auf.

 

Als Marie die Tür zu ihrer Wohnung aufsperrte, hatte sie noch immer Tränen in den Augen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Alle zerrten an ihr und glaubten zu wissen, was ihr gut täte. Dabei wollte sie einfach nur ihre Ruhe haben. Die Trennung von ihrem Ex-Freund war erst ein paar Monate her und er hatte sie bis vor kurzem noch immer terrorisiert. Briefe mit Drohungen, verwelkte Blumen und abgelaufene Schokolade mit Maden darin. Die Polizei hatte ihn mehrmals überprüft, konnte ihm aber nichts nachweisen. Wahrscheinlich hatte er sie geschmiert. So wie er auch ihren Psychiater mit Sicherheit geschmiert hatte.

 

Sie ließ sich ein heißes Bad ein und versuchte wenigstens so ein paar Minuten zu entspannen. Es fiel ihr aber schwer ihre Gedanken zu kontrollieren. Sie dachte immer wieder an das, was Dr. Hartman sagte. Sie solle aufwachen. Wovon denn? Sie hatte in den letzten Wochen enorme Fortschritte gemacht. Ihre Wohnung war nicht mehr so ein Chaos, sie putzte regelmäßig und vergaß auch nicht mehr die Katze zu füttern. Und das alles, weil sie sich diese kleinen Zettel an den Kühlschrank und die Wohnungstür klebte. Sie hatte ihren eigenen Weg gefunden Ordnung und Stabilität zu schaffen.

 

Sie blickte auf ihre Uhr. 16 Uhr. Es war noch genug Zeit. Also beschloss sie nach dem Bad eine Runde spazieren zu gehen und sich bei der Pizzeria in ihrer Straße etwas mitzunehmen. Sie war eine ganze Stunde unterwegs und entschied ihre Mutter wieder einmal anzurufen. Wie immer hob aber ihr Vater ab.

„Marie? Bist du das?“, fragte er zögerlich.

„Ja, Papa. Ich bin es. Gibst du mir bitte Mama?“, erwiderte Marie.

„Marie, ich habe dir schon oft genug gesagt, dass du mit Mama nicht mehr sprechen kannst. Wieso rufst du immer wieder an?“

„Wann hast du mir das gesagt?“, fragte Marie.

„Letzte Woche. Vorletzte Woche. Und die Woche davor. Wann hört das endlich auf, Marie? Wann?“. Er klang gereizt.

„Okay. Entschuldige. Ich werde euch nicht mehr belästigen.“, schnauzte sie ins Telefon und legte auf.

Was war denn das wieder? Soviel zu sie bräuchte den Psychiater.

Sie wählte die Nummer von Kathi, ihrer besten Freundin.

 

„Ja?“, fragte eine Stimme.

„Kathi, ich bin es. Marie.“, antwortete sie fröhlich. „Ich wollte dich fragen wie es dir geht und was du heute am Abend noch vor hast?“

Niemand antwortete.
„Kathi? Bist du da?“, fragte Marie.

„Ähm, ja bin ich. Ich bin gerade etwas erstaunt, dass du mich anrufst.“

„Wieso bist du erstaunt? Wir telefonieren doch jede Woche.“

Kathi räusperte sich. „Ja, alles gut. Entschuldige. Ich stehe zurzeit etwas unter Stress. Können wir morgen telefonieren? Ich muss noch etwas fertig bekommen. Ist ganz dringend.“

„Ja, okay. Rufst du mich an, wenn es dir passt?“, fragte Marie.

„Ja, klar. Mach ich.“. Aufgelegt.

 

Als Marie mit der Pizza nach Hause kam, stand ihre Wohnungstür offen.

Verdammt! Habe ich vergessen sie zuzumachen? Nein, dass passiert mir doch nie, dachte sie.

Langsam ging sie hinein.

„Hallo?“

Es kam aber keine Antwort. Sie schloss die Tür hinter sich und sperrte zu. Dann bewaffnete sie sich mit einem Küchenmesser und ging durch die ganze Wohnung. Es war aber keiner da.

Wahrscheinlich wirklich vergessen zuzumachen.

Sie setzte sich mit der Pizza an den Esstisch und scrollte durch Instagram.

Nach dem Essen ging sie ins Bad und wollte sich die Hände und das Gesicht waschen. Sie blickte auf den Badezimmerspiegel und ließ einen kurzen Schrei los. Ein Schock durchfuhr ihren Körper.

Dort stand mit roter Farbe: DAS NIMMT EIN BÖSES ENDE MIT DIR, DU WEICHEI!

 

Ihr Puls raste, schlug bis zum Hals und ihre Hände begannen zu schwitzen. Voller Panik versuchte sie mit einem nassen Lappen die Schrift abzuwischen. Sie verschmierte aber mehr als sie wegging. Sie lief in ihr Schlafzimmer. Dort überkam sie der nächste Schock. Auf ihrem Bett lag ein Foto von ihrer Katze mit einem Zettel: WENN DU MICH FINDEST, DARFST DU MICH BEHALTEN!

 

Tränen stiegen ihr in die Augen. Panik machte sich in ihrem ganzen Körper breit. Sie atmete immer schneller, bekam fast keine Luft. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die Wand.

Atmen! Einatmen! Ausatmen!, sprach sie sich in Gedanken vor.

 

Dann holte sie ihr Handy und tippte mit zitternden Händen die Nummer von Dr. Hartman.

 

„Marie, alles okay?“, fragte er.

„Nein … Sie müssen … oh Gott … bitte ...“, stotterte sie ins Telefon.

„Marie! Klare und deutliche Sätze! Was ist passiert?“

„Kommen sie bitte so schnell wie möglich zu mir. Bei mir ist jemand eingebrochen.“. Ihre Stimme brach fast zusammen.

„Ich bin gleich da.“

 

Als Dr. Hartman bei ihr ankam, saß sie mit dem Foto ihrer Katze auf den Stufen im Treppenhaus.

Mit ihm kamen zwei Polizisten und zwei Rettungssanitäter. Aber die fielen Marie nicht mal wirklich auf. Sie starrte nur auf das Foto ihrer Katze.

Dr. Hartman setzte sich neben sie.

 

„Was ist passiert?“

„Ich bin vom spazieren gehen nach Hause gekommen. Die Wohnungstür war offen. Am Spiegel im Bad stand eine komische Nachricht und dann finde ich das auf meinem Bett.“

Sie reichte ihm das Foto in ihrer Hand.

Dr. Hartman seufzte und fuhr sich mit seiner rechten Hand und über das Gesicht.

Marie. Mir tut das jetzt wirklich Leid, aber ich muss sie aufwecken.“ Er schnippte zweimal mit seinen Fingern vor ihrem Gesicht. Marie zuckte zusammen. Als wäre ein Stromschlag durch ihren Körper gefahren. Dann sah sie ihn fragend an.

„Was soll das?“

Er nahm sie am Arm und zog sie hoch.

„Kommen sie mit.“

 

Er führte sie in die Wohnung. Marie stand wie angewurzelt im Türrahmen. Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nein, nein! Was soll das? Was haben sie getan?“, schrie sie.

Dr. Hartman hielt sie aber fest.

„Marie, sie hin! Das ist die Realität!“

 

Sie stand in einer leeren Wohnung. Kein Esstisch, keine Couch, keine Küche und keine Regale. Das einzige was sich mitten in dem Raum befand, waren zwei Klappstühle. Auf einem lag ein Pizzakarton. Marie ging ins Bad. Kein Spiegel, keine Dusche. Hier war nichts.

Mit Tränen in den Augen stand sie da.

„Was haben sie getan? Wie konnten sie so schnell alles leer räumen?“

Die Polizisten standen bei der Eingangstür, mit etwas Abstand hinter ihnen die Rettungssanitäter.

 

„Wir haben gar nichts getan. Das warst du selbst. Sieh es dir an.“

Er gab ihr einen Laptop in die Hand mit einem Video. Darauf war deutlich zu sehen wie sie die Möbel zum Teil beim Balkon runter warf oder anzündete. Dann tanzte sie wie ein kleines Kind herum, lachte und klatschte.

„Bin … bin ich das?“, fragte Marie ängstlich.

„Ein anderer Teil von dir.“

Marie sah ihn verwirrt an. „Was heißt, ein anderer Teil?“. Eigentlich wusste sie die Antwort. Wollte sie aber nicht aussprechen, denn dann wäre es zur Wahrheit geworden.

„Deine zweite Persönlichkeit. Du leidest seit etwa einem halben Jahr an einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung. Ausgelöst durch die Gewalt von deinem Ex-Freund und verstärkt durch den Tod deiner Mutter. Die Drohungen, Blumen und Pralinen kommen von dir selbst. Beziehungsweise von deiner zweiten Persönlichkeit. Sie wollte dich einfach nur quälen.“

Marie ließ beinahe den Laptop fallen. Sie hielt sich an der Wand neben ihr fest und atmete schwer.

„Meine Mutter … sie ist tot? Wann? Wie?“

„Vor 4 Monaten. Autounfall. Ein betrunkener hat sie gerammt. Sie hat es leider nicht geschafft.“

„Und der Mann?“, fragte Marie zögerlich.

„Deswegen sind wir hier. Geh bitte ins Schlafzimmer.“, sagte Dr. Hartman,

 

Marie stand langsam auf und ging ins Schlafzimmer. Dr. Hartmann sah die Polizisten an.

„Wer auch immer hier jetzt rauskommt. Bitte nicht schießen.“

Die beiden Polizisten hatten ihre Hände bereits an dem Halfter ihrer Glock.

 

Dann hörten sie plötzlich ein langsames Klatschen und helles Lachen.

Marie kam aus dem Schlafzimmer heraus.

Die Person sah zwar haargenau aus wie Marie, war aber komplett verändert in ihrem Wesen.

Sie wirkte selbstbewusster, keine zitternden Hände mehr, arrogant und blickte mit Verachtung auf die anderen.

 

„Gratuliere, Doc. Sie haben es geschafft. Sie haben mich gefunden.“

„Guten Abend, Christine. Schön dich kennen zu lernen.“

„Bringen wir es hinter uns.“, seufzte sie gelangweilt.

Sie streckte ihre beiden Hände aus. Dr. Hartman deutete den Polizisten, dass sie die Person fest nehmen können.

Die beiden Rettungssanitäter kamen herein und gingen mit einer Trage in das Schlafzimmer. Dort fanden sie den Mann, der Marie´s Mutter getötet hatte, angekettet auf einer Matratze.

Er war unterkühlt und unterernährt, aber er lebte.

 

Dr. Hartmann begleitete die Polizisten mit ihr nach unten.

„Eine Frage habe ich noch, Doc.“, fragte sie ihn.

„Ja, bitte?“

„Wie haben sie es herausgefunden? Das ich existiere?“

Dr. Hartman lächelte kurz.

„Du bist wirklich klug, Christine. Hast uns lange an der Nase herumgeführt, aber du warst schlampig. Marie ist Linkshänderin und du hast den Stift bei der Therapiesitzung in die rechte Hand genommen.“

Sie lächelte kurz.

„Wird mir nicht mehr passieren.“


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Kommentare

Tini
Vor 13 Tage

Tolle Geschichte! Hätte nie so mit dem Ende gerechnet 😱

Gabriele
Vor 13 Tage

Sehr originell - cooles Ende 😎
Die Geschichte ist gut durchdacht 🤗🤭

Susanne Will
Vor 13 Tage

super.Ich freu mich schon auf die nächste Geschichte😍

Flo C.
Vor 13 Tage

Sehr cool...gefällt Mir gut.Weiter so.

Michael
Vor 12 Tage

wieder eine sehr gut gelungene Geschichte sehr fesselnd mit Spannung bis zum Schluss und macht spaß auf mehr !!!

Stevie
Vor 10 Tage

Super story! Gut gemacht👍
...ich frage mich ob es die Katze wirklich gab....